„Ich bin schlechter als jeder andere!“ – über den Größenwahn

BITTE BEACHTEN SIE

Ich habe einige außergewöhnliche Behandlungsansätze, die sich nicht in Büchern wiederfinden. Diese sind meist konsequent weitergedachte schulmedizinische Betrachtungsweisen. Um mich und meine Arbeit besser kennenzulernen, stelle ich diese hier dar. Ich diskutiere diese gerne mit Ihnen und stelle etwas pointiert dar, um zum Austausch anzuregen. Dieser Blog ist weder Ausbildung, noch zum Nachahmen gedacht und ersetzt keine ärztliche Beratung oder Therapie. Aber vielleicht lachen Sie. Und dann vielleicht doch.

„Ohne Makeup gehe ich nicht aus dem Haus. Ich brauche mindestens drei bis vier Stunden, um einigermaßen vorzeigbar zu sein. Ich weiß sowieso nicht, warum sich mein Freund nicht schon längst von mir getrennt hat. Selbst dann gehe ich als maximal durchschnittlich raus. Ich habe mir schon Kontaktlinsen gekauft und denke über eine weitere Operation nach. Ich möchte endlich wieder Selbstvertrauen habe, mich wohl in meiner Haut fühlen. Nicht immer nachdenken müssen, was die anderen wohl grade von mir denken. Ich sehe ja, wie sie über mich ablästern und auch zu Recht. Ich traue mich nichts zu sagen, da ich nicht noch mehr Unwillen erregen will. Ich kann mich gar nicht mehr auf mich selbst konzentrieren, weil ich immer meine Umwelt im Auge behalten muss. Ich will rechtzeitig einschreiten, wenn sich etwas gegen mich zusammenbraut.“

Klingt extrem, kommt so oder so ähnlich jede Woche vor. In meinem persönlichen Empfinden in letzter Zeit mehr als früher. Im Extremfall werden Spiegel vermieden und verhangen, es dürfen keine Fotos gemacht werden, das Haus wird nicht mehr verlassen. Die Patienten wissen was los ist. „Ich habe einen extremen Minderwertigkeitskomplex!“, höre ich dann in der Zusammenfassung. In allem sind sie schlecht, so sehr, dass sie sich keinem anderen zumuten können. Erstaunlicherweise ist diese Einstellung völlig resistent, Lob oder Widerspruch prallt ab, stößt auf völliges Unverständnis. Dabei fällt es mir sogar leicht zu widersprechen, da nichts des genannten zu objektivieren ist. Die extremste Entgegnung, die ich je erhielt, werde ich nie vergessen:

„Wenn sie so häßlich sind, dass sie sich keinem zumuten können, warum waren sie vor 2 Monaten im Playboy? Wer kauft dieses Heft, um ihre Bilder anzusehen?“ Die Patientin zögerte keine Sekunde:
„Diese Männer müssen völlig bescheuert sein. Aber so lange es dafür Geld gibt, ist mir das völlig egal.“

In Ausführlichkeit wird die Konkurrenz beschrieben. Nur tolle andere Frauen, alle jünger, unglaublich viel hübscher, da hat man keine Chance.

Wenn man an dieser Stelle nicht genau aufpasst, könnte man diesem Gefühl von Minderwertigkeit glauben. Als Therapeut würde man versuchen, das Ego durch Konfrontation mit der Realität zu verbessern und dabei die Symptomatik verschlechtern. Nur warum?

Ein Beispiel, um die Sache nachvollziehbar zu machen: In der Schule haben wir eine Einserschülerin und eine Sechserschülerin. Das bezieht sich dann wohl auf die Grundschule. Viele von uns wurden ja dann erst ein Einserkandidat, als das Punktesystem eingeführt wurde. Beide schreiben die gleiche Klassenarbeit. Die Einserschülerin ist bei einer eins zufrieden. Nicht begeistert, nicht glücklich, sondern zufrieden, weil es ja eine Selbstverständlichkeit war. Jede andere Note enttäuscht sie, macht sie unglücklich. Die Sechserschülerin erwartet – wer hätte das gedacht – eine sechs. Jede andere Note würde sie positiv überraschen, erfreuen, glücklich machen. Während die Sechserkandidatin sich auf jede Prüfung freut und von Leben fast nur Positives zu erwarten hat, muss sich die Einserschülerin vor jeder Arbeit fürchten, ja ihr aus dem Weg gehen. Sie hat viele Möglichkeiten, unglücklich zu werden. Diese letzte Beschreibung trifft genau so auf unsere Patientin zu. Sie geht jedem Vergleich aus dem Weg, verlässt das Haus nicht, sucht sich immer schönere Vergleichsmöglichkeiten, vor denen sie möglicherweise schlecht aussieht. Das sagen die auch so, wenn man genau hinhört: „Wenn nur eine Person in der Disko hübscher ist als ich, will ich sofort nach hause.“ Jetzt merken wir, wir haben es nicht mit einem Minderwertigkeitskomplex zu tun, sondern mit Größenwahn. Vor dem zur riesenhaften Größe aufgeblasenen Ich muss sich jede Realitätskontrolle fürchten. Daher verlassen die ihre Wohnung nicht mehr und wenn ich als Therapeut versuche, das Ego durch Komplimente zu stabilisieren, blase ich es in Wirklichkeit mehr auf! Damit wird es noch schwerer, dass die Wirklichkeit der Phantasie folgt. Daher muss das Leben voller Enttäuschungen sein und depressiv machen.

Daher geht es in diesen Fällen darum, das Selbstbewußtsein der Realität anzupassen, demütig sein. Die heutige Medienlandschaft macht das natürlich schwer. Jeden Tag bekommen wir das Leben von erfolgreichen und schönen Menschen vorgesetzt. Kein Wunder, dass wir uns mit denen messen wollen. Oder freiwillig den Kampf aufgeben und Harzer werden.

In meiner Jugend hat Popeye immer gesagt: „Ich bin wer ich bin. Und das ist alles, was ich bin!“

Aber auch nicht weniger.